BUCH "Alexander Nym - Schillerndes Dunkel. Geschichte, Entwicklung und Themen der Gothic-Szene"
(Plöttner Verlag)

Die Gothic-Szene gibt es mittelweile schon seit ungefähr 30 Jahren. Da scheint es nicht verfrüht, dass diese Szene nun endlich einmal mit einem wahrlich opulenten Buch (Format: 27,4 x 23,6 x 3,2 cm) gewürdigt wird. Dem Herausgeber des großartig ausgestatteten Sammelbandes, Alexander Nym, ist es gelungen, nicht weniger als über 50 Aktivsten der Szene zu versammeln, die mit ihren Texten, Fotografien (vor allem in Schwarz-Weiß, aber auch in Farbe) und anderen Kunstbeiträgen ein vielfältiges Bild der schwarz- romantischen Bewegung zeichnen. Die Textbeiträge bestehen unter anderem aus wissenschaftlichen Aufsätzen, journalistischen Essays, Interviews und Erlebnisberichten. Auch viele bekannte Künstler haben an dem Prachtband mitgewirkt. Zum Beispiel: ANNE CLARK, Patrick Codenys (FRONT 242), Nik Fiend (ALIEN SEX FIEND), Andréa Haugen (NEBELHEXE), Oswald Henke (GOETHES ERBEN), Klive Humberstone (IN THE NURSERY).

Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel: 1) Entstehung und Grundlagen, 2) Genres und Subgenres schwarzer Musik und Kultur, 3) Entwicklungen seit 1990, 4) Mode, Ästhetik und Lebenskultur, 5) Themen und Diskurse. Für jedes der Kapitel hat Nym eine Einführung geschrieben, die stets Lust darauf macht, sich weitergehend mit den jeweiligen Themen zu beschäftigen. Ein roter Faden des gesamten Buchs ist es, dass darin immer wieder eine Auseinandersetzung mit den Themen Okkultismus, Satanismus und Rechtsextremismus stattfindet. Warum diese Themen im Zusammenhang mit der Gothic-Szene eine besondere Aufmerksamkeit verdienen, wird im Vorwort des Herausgebers schlüssig erklärt. Auch erfährt man dort, dass Nym seit über 20 Jahren in der Szene aktiv ist. Beim Blick auf die interessanten Kurzbiographien am Ende des Buchs kann man zudem erfahren, dass es sich bei dem Herausgeber um einen Kultur- und Medienwissenschaftler handelt.

Im ersten Kapitel lohnt es sich sicherlich ganz besonders, den Beitrag von Neil Megson alias Genesis P-Orridge (THROBBING GRISTLE, PSYCHIC TV) zu lesen. Denn Megson erzählt sehr eindringlich von seiner Freundschaft mit Ian Curtis (JOY DIVISION). Dabei reflektiert der Autor erwartungsgemäß auch immer wieder die Umstände, die schließlich zum Freitod des Sängers geführt haben. Megson macht greifbar, dass es eine sehr innige Form der Seelenverwandtschaft gewesen sein muss, die seine Beziehung zu Curtis prägte. Viele der Gefühlslagen, die bei dieser Seelenverwandtschaft feststellbar sind, sind für Teile der Gothic-Szene bis zum heutigen Tag von besonderer Bedeutung. Und mitunter wird der brüchige Zusammenhalt dieser heterogenen Subkultur überhaupt erst durch diese Gefühlslagen möglich.

Originalton Megson: "Es war eine Art Hingezogen-Sein zu einer zynischen Verachtung der Gesellschaft, die sich oft durch Selbsthass und ein tiefsitzendes Gefühl des Versagens Ausdruck verschaffte. Versagen darin, Leute begreifen lassen zu können; das Versagen, sie die Doppelmoral und die Betrügereien wirklich sehen zu lassen, die Aberwitzigkeit althergebrachter Vorstellungen von Beziehungen und den Gründen, weshalb man lebt, die Unterwerfung unter gewaltsam auf die Bevölkerung oktroyierte Vorstellungen seitens der Mächtigen." Drei Seiten später beschreibt der Autor die betreffenden Gefühlslagen besonders packend: "Diese Krankheit, dieser 'Herzschmerz', ist ein bisschen wie eine grausam aufgezwungene, uns einkerkernde Geheimgesellschaft. Eine, die ihre Mitglieder ohne vorheriges Einverständnis in Besitz nimmt". (...) "Die Infizierten sind ständig in der Krise." (...) "Und die Quelle, der Ursprung all dieser betäubenden Unsinnigkeit wird lachend als 'Leben' gefeiert."

Im zweiten Kapitel ist zweifellos der Beitrag zu den verschiedenen Spielarten Schwarzer Musik von besonderer Wichtigkeit. Schließlich drückt die Gothic-Szene ihre Gefühls- und Interessenlagen vor allem durch Musik aus. Im Einzelnen werden folgende Musikgenres thematisiert: Post-Punk, Gothic Rock, New Romantic, New Wave, Dark Wave, Synthie Pop, Electronic Body Music (EBM), Electro, Future Pop, Fetisch-S/M, Elektronischer Industrial & Power Electronics, Avantgarde & Avantgarde Industrial, Neofolk, Dark Ambient & Ritual, Neoklassik, Gothic Metal & Black Metal, Industrial Rock, Neue Deutsche Todeskunst, Neue Deutsche Härte, Mittelaltermusik, Heavenly Voices. Die jeweiligen Genres sind zumeist wie folgt untergliedert: 1) Entstehung & Entwicklung, 2) Instrumentierung & Besetzung, 3) Themen, Motive, Stimmungen, 4) Wichtige Vertreter, 5) Subgenres & Spielarten, 6) Mode & Auftreten.

Nach meiner Einschätzung kann man die Darstellung der schwarzen Musikstile im Wesentlichen als kompetent bewerten. Aber wer allein kennt sich schon wirklich in allen Genres detailliert aus?! Folglich haben bei diesem Abschnitt des Buchs auch drei Autoren zusammengewirkt: Judith Platz, Megan Balanck und der Herausgeber Alexander Nym. Als THE MISSION-Fan muss ich selbstverständlich kritisieren, dass diese Band nicht bei den wichtigen Vertretern des Gothic Rock aufgeführt ist. Und ARCANA-Fans mögen sich vielleicht etwas darüber wundern, dass diese Gruppe nicht bei Neoklassik, sondern im Genre Mittelaltermusik erwähnt wird. Aber letztlich sind das alles Feinheiten bzw. Ansichtssachen, deren Thematisierung man sich genauso gut schenken kann.

Auch im fünften Kapitel wird deutlich, dass in der Gothic-Szene schon immer eine Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus im Allgemeinen und dem Nationalsozialismus im Besonderen stattfand. Diese Auseinandersetzung diente meist der Aufarbeitung und Überwindung des (historischen) Faschismus. Doch insbesondere wenn sich Künstler der Neofolk-Szene mit dem Faschismus beschäftigten, gewann man bisweilen den Eindruck, dass nicht aufklärerische Motive das Handeln bestimmen, sondern dass es eher darum geht, dieses politische Phänomen zu beschönigen.

Zu dieser Problematik äußert sich im fünften Kapitel der rechte Publizist und Neofolk-Anhänger Martin Lichtmesz. Angesichts des politischen Standorts des Autors ist es nicht sonderlich überraschend, dass Lichtmesz kein Interesse daran hat, den mitunter problematischen künstlerischen Umgang der Neofolk-Szene mit dem Faschismus zu kritisieren. Dafür bekommt der Leser rechte Propaganda zu lesen. Eine Kostprobe: "In deutschsprachigen Ländern wächst man nun einmal mit allerlei pawlowschen Konditionierungen auf, die sich aus den Debatten und Ritualen um die vermeintliche oder tatsächliche 'Schuld' der Deutschen und ihrer 'Sonderwege' ableiten." (...) "Auf die Bewältigungs-Konditionierung, der man durch Schule und Medien hilflos ausgesetzt war, übten die Rätsel, die Death in June aufgaben, eine verstörend subversive Wirkung aus."

Die Aussagen von Lichtmesz veranschaulichen exemplarisch, dass es in den Randbereichen der Gothic-Szene in der Tat gewisse rechte Tendenzen gibt. Ansonsten bleibt zu sagen, dass für mich zweifellos DEATH IN JUNE eine derjenigen Bands ist, die den historischen Faschismus auf kritikwürdige Weise thematisiert haben. Selbstverständlich konnte man auch immer im Bereich des Neofolk wertvolle Musik entdecken, die in politischer Hinsicht unbedenklich war. Tatsächlich wäre es nicht angemessen, wenn man diesen Bereich der Gothic-Szene in seiner Gesamtheit als "rechts" oder gar als "rechtsextrem" bezeichnen würde. So fiel in den letzten Jahren die Neofolk-Band ROME auch deshalb sehr positiv auf, weil sie eine künstlerische Aufarbeitung des historischen Faschismus betrieb, bei der der aufklärerische Wille unverkennbar war.

Viele der Beiträge im fünften Kapitel kreisen um die Frage, ob die Gothic-Szene ein Modell für eine bessere Form menschlichen Zusammenlebens sein könnte. Dabei fällt auf, dass zumindest einzelne Autoren dazu neigen, die Szene etwas zu positiv zu sehen. So zum Beispiel Peter Matzke: "Es scheint also, als koexistierten in der Schwarzen Szene konservative und progressive Denkmodelle in friedvollem Nebeneinander, die inzwischen fast schon sprichwörtliche gotische Toleranz zeigt, dass das sehr gut möglich ist. Diese Toleranz beruht nicht auf gegenseitiger Gleichgültigkeit hinter einem schwammigen Freiheitsbegriff, sondern auf Aufgeschlossenheit im Denken, gelebter Empathie, sowie körperlicher, verbaler und seelischer Gewaltlosigkeit." Solch romantische Realitätsverzerrungen werden glücklicherweise durch den Wirklichkeitssinn des Herausgebers begrenzt, denn dieser stellt bei seiner Einführung zum fünften Kapitel nüchtern fest, "dass die Szene nach innen mitunter gnadenlos hierarchisch funktioniert; dass Statusdenken und Unterordnung genauso häufig sind wie die Außenseitern gegenüber zur Schau gestellte Distanziertheit."

In seinem Nachwort wagt Nym einen einigermaßen optimistischen Blick in die Zukunft der Gothic-Szene. Insbesondere hofft er darauf, dass in der Szene "das einstmals vorhandene, kritisch-aufklärerische Potenzial streitbarer Klangkunst" erneuert wird. Tatsächlich kann man dies der Gothic-Szene nur wünschen. Vielleicht gelingt es der Szene ja noch, sich so zu entwickeln, dass sie eines Tages ein wirklich überzeugendes Modell für eine bessere Gesellschaft sein kann. Bis dahin ist der vorliegende Prachtband zumindest schon mal ein sehr brauchbares Modell für eine bessere und schönere Bücherwelt. In der Tat ist Nym mit diesem Sammelband ein ganz großer Wurf gelungen. Das Buch dürfte zu Recht bis auf weiteres als das neue Standardwerk zur Gothic-Szene wahrgenommen werden. Dennoch werden wahrscheinlich viele derjenigen, die in den 80er Jahren durch die klassischen Vertreter des Gothic Rock einen Draht zur Szene gefunden haben, der Meinung sein, dass speziell dieses Genre zu wenig berücksichtigt wurde. (stefan)

Das Buch kostet 68,00 Euro und hat 432 Seiten (ISBN: 978-3-86211-006-3).

Weitere Infos: www.ploettner-verlag.de/shop/Buecher/-Shop/Sachbuch/Schillerndes-Dunkel::126.html; www.schillerndesdunkel.de.


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