BUCH "Gewaltmusik - Musikgewalt. Populäre Musik und die Folgen" (Populärmusik)
(Verlag Königshausen & Neumann)

Der promovierte Musikwissenschaftler Klaus Miehling setzt sich in seinem Buch mit Populärmusik und deren sozialer Bedeutung auseinander. Dabei bezeichnet der Autor das, was man gemeinhin Populärmusik nennt, als "Gewaltmusik". Nach Miehling lässt sich die Musikwelt in zwei Bereiche unterteilen, nämlich in Ernste Musik (E-Musik) und Unterhaltungsmusik (U-Musik). E-Musik bringt der Autor fast ausschließlich mit klassischer Musik in Verbindung, während er U-Musik weitgehend mit Populärmusik gleichsetzt. Der U-Musik ordnet Miehling unter anderem folgende Musikstile zu: Blues, Funk, Hardcore, Heavy Metal, Rap, Rock'n'Roll, Schlager, Soul, Techno.

Für Miehling besteht der entscheidende Unterschied zwischen E- und U-Musik in einer vermeintlich unterschiedlichen moralischen Qualität dieser beiden Musikformen. Der Autor geht davon aus, dass sich E-Musik durch eine hohe und U-Musik durch eine niedrige moralische Qualität auszeichnet. Ferner hält der Wissenschaftler der populären Musik vor, dass diese aufgrund ihrer angenommenen moralischen Verderbtheit in einem sehr hohen Umfang für allerlei soziale Missstände verantwortlich sei. Wobei dies insbesondere im Vergleich zur klassischen Musik deutlich werde, da diese Musik in ihrer Geschichte angeblich fast ausschließlich die Qualität des menschlichen Daseins verbessert habe.

Die vermeintliche Minderwertigkeit der Populärmusik zeigt sich laut Miehling zwar auch an den Liedtexten und am Lebensstil der Musiker und Konsumenten, aber insbesondere sei es die Musik selbst, die aufgrund ihrer spezifischen Eigenart negativ sei und deshalb entsprechend wirke. Der Autor verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf das in der Populärmusik regelmäßig verwendete Schlagzeug, das aufgrund seiner akustischen Wirkungsmacht nicht zuletzt die neuronale Struktur des Menschen unheilvoll beeinflussen soll. Des Weiteren wird die angebliche Rhythmus-Fixierung als ein typisches Negativmerkmal von "Gewaltmusik" dargestellt: Schließlich animiere die Rhythmus-Lastigkeit zu enthemmtem Verhalten, wie etwa dem Tanzen, was letztlich sogar zu kriminellen Handlungen führen könne.

Seine gewagten Thesen versucht der Musikwissenschaftler hauptsächlich zu belegen, indem er sehr ausführlich kriminelles Verhalten von "Gewaltmusikern" und deren Fans dokumentiert. Dabei kommt der Autor immer wieder zu dem Ergebnis, dass es aufgrund der moralischen Schlechtigkeit der Populärmusik für diese Musikszene typisch sei, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Selbstverständlich kann eine solche Verallgemeinerung nur als unzulässig bezeichnet werden. Genauso unsinnig wäre es, eine Liste von Straftaten zu erstellen, die Christen, Hundebesitzer, Moslems oder Sportfans begangen haben, um dann festzustellen, dass es für die Mitglieder dieser Menschengruppen typisch sei, straffällig zu werden.

Zudem erscheinen die Generalisierungen des Autors verwegen, wenn man bedenkt, wie umfangreich und vielschichtig das globale Phänomen namens Populärmusik ist. In der Tat scheinen die Möglichkeiten ziemlich begrenzt zu sein, über ein soziales Phänomen dieser Größenordnung und Eigenart allgemeingültige Merkmale zutage fördern zu können. Unabhängig davon hätte der Autor - vorausgesetzt, dass er wirklich an repräsentativen Erkenntnissen interessiert gewesen wäre - die Populärmusiker oder Fans nach dem Zufallsprinzip auswählen müssen. Diese Personen hätte er dann hinsichtlich einer möglichen Delinquenz-Häufigkeit betrachten können. Es ist aber nicht akzeptabel, sich ausschließlich Straftäter herauszupicken und dann auf der Basis dieser Vorgehensweise den Eindruck zu vermitteln, die Vertreter der Populärmusik seien über die Maßen kriminell. Der Autor entspricht hier meines Erachtens nicht den moralischen und wissenschaftlichen Standards einer seriösen empirischen Sozialforschung. Gleichwohl ist fairerweise anzufügen, dass Miehling auf etliche Untersuchungen verweist, die seine weitreichenden Thesen untermauern sollen. Allerdings scheinen mir diese Studien keineswegs aussagekräftig genug zu sein, dass sie die tollkühnen Thesen des Autors bestätigen könnten.

Kritikwürdig erscheint mir auch, dass der Autor pauschal davon ausgeht, dass unmoralisches Verhalten daran erkennbar sei, dass Menschen mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Hier fehlt offensichtlich das Verständnis dafür, dass es mitunter gerade unter moralischen Vorzeichen zwingend notwendig sein kann, Gesetze zu missachten. Das defizitäre Moralverständnis von Miehling führt zum Beispiel dazu, dass er "Gewaltmusikern" sogar dann moralische Verkommenheit bescheinigt, wenn diese widerrechtlich den Wehrdienst verweigert haben. Dieses Vorgehen erscheint besonders absurd angesichts der Tatsache, dass Miehling beharrlich verkündet, er wolle sich mit seinem Engagement gegen die "Gewaltmusik" für eine friedlichere Welt einsetzen.

In solch logischen und moralischen Widersprüchen verfängt sich der Autor des Öfteren. So wirft er den "Gewaltmusikern" Costa Cordalis und Ozzy Osbourne vor, dass sie Tierquäler seien (angeblich hat Cordalis einem Hirschkäfer den Kopf abgebissen, während Osbourne bei einer Taube Entsprechendes getan haben soll). Trotz dieser Kritik an den beiden "Gewaltmusikern" nutzt Miehling an anderer Stelle ohne erkennbare moralische Bedenken die Ergebnisse von Tierversuchen, um die angeblich negative Wirkung von "Gewaltmusik" nachzuweisen. Hier drängt sich der Gedanke auf, dass für den Autor Tierquälereien moralisch tragbar sind, sobald der Gesetzgeber dieses Treiben gutheißt.

Überdies ist erwähnenswert, dass sich Miehling in seinem Buch auch gegen jede Form der Zwangsbeschallung und für die akustische Selbstbestimmung des Menschen ausspricht. Gegen dieses Ideal ist natürlich rein gar nichts einzuwenden. Jedoch vermittelt der Autor den Eindruck, dass er durchaus gewillt ist, dieses Ideal zu opfern, wenn er dadurch seinem übergeordneten Ziel einer nahezu rundum leistungsorientierten, rationalen und daher leidenschaftslosen, von klassischer Musik erfüllten Zukunftsgesellschaft näher käme. So regt er zum Beispiel an, das Zwangssystem Schule intensiver zu nutzen, um junge Menschen verstärkt an klassische Musik heranzuführen. Diese Maßnahme soll insbesondere die Friedfertigkeit und Leistungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen steigern. Zudem stellt er einen ausgeklügelten Repressionskatalog vor, durch den der gesellschaftliche Einfluss von Populärmusik zurückgedrängt werden soll. Beim Lesen dieses Repressionskatalogs wird relativ schnell deutlich, dass der Autor letztlich sogar die vollständige Verdrängung der "Gewaltmusik" anstrebt. Hierzu passt, dass er Populärmusik als "Droge" bezeichnet. Dass Miehlings Machtphantasien dem Ideal einer akustischen Selbstbestimmung des Menschen massiv widersprechen, dürfte auf der Hand liegen.

Es ist recht offensichtlich, dass man es bei Miehling mit einem Menschen zu tun hat, der sich selbst wahrscheinlich als christlichen und wertkonservativen Menschen verstanden wissen möchte. Zum Beispiel verweist er auf den Wertewandel, der sich in der deutschen Gesellschaft während der letzten 50 Jahre vollzogen hat. Diesen Wertewandel nimmt der Autor vor allem als etwas Negatives wahr. Verantwortlich für diesen Wandel macht Miehling nicht zuletzt die Populärmusik. Tatsächlich hat diese Musik seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts immer mehr an sozialer Bedeutung gewonnen. Außerdem lastet Miehling der Studentenbewegung von 1968 den besagten Wertewandel an, wobei er die 68er-Bewegung als ein mit der Populärmusik verschränktes Phänomen begreift.

Aufgrund seiner erzkonservativen Haltung und seines heiligen Zorns auf die "Gewaltmusik" ist es Miehling nicht möglich, wahrzunehmen, dass triftige Gründe dafür sprechen, die beiden von ihm kritisierten Phänomene in erster Linie positiv zu bewerten. Schließlich haben beide Phänomene dazu beigetragen, dass die westlichen Gesellschaften von allerlei verlogenen Moralvorstellungen und inakzeptablen Hierarchien befreit wurden (selbstverständlich gibt es auch in der Geschichte dieser beiden Phänomene Schattenseiten). Nachdem man den Wälzer gelesen hat, kommt man kaum umhin, sich folgende Frage zu stellen: Wie kann ein Mensch, der durch seine Liebe zur klassischen Musik Feinsinnigkeit beweist, ein Buch schreiben, das vor allem durch seine grobe Verunglimpfung populärer Musik auffällt? Eines scheint zumindest sicher: Sollte die Erde jemals aufhören, ein rätselhafter Ort voller Widersprüche zu sein, dürfte es nahezu unmöglich sein, dies Klaus Miehling und seinem Buch anzulasten. Andererseits, wer weiß: Die Suche nach Schuldigen treibt ja bisweilen die merkwürdigsten Blüten.
Das Buch kostet 98 Euro und hat 685 Seiten. (ISBN 3-8260-3394-9) (stefan)

Auf seiner Homepage stellt der Autor sich selbst und seine Thesen zur "Gewaltmusik" vor. Die dort einsehbaren Aufsätze spiegeln in kompakter Form die Sichtweisen wider, die im Buch dargelegt werden:
http://klausmiehling.npage.de

Der folgende Link ist vor allem interessant, weil dort das komplette Inhaltsverzeichnis des Buchs zu finden ist: www.uni-giessen.de/graduiertenzentrum/magazin/rezension-2204.html

Schließlich bietet natürlich der Königshausen & Neumann Verlag Informationen zum Buch (unter anderem gibt es dort eine kurze Inhaltsangabe zu lesen): http://koenigshausen-neumann.gebhardt-riegel.de/


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